„Erklär mir den Feminismus“
Das Patriarchat tut niemandem gut.
Erweiterte Version. Dieser Text erschien im Mai 2020 unter dem Titel „Feminismus macht Männer besser“ in gekürzter und redigierter Fassung in der taz die tageszeitung, auf taz.de und in russischer Sprache auf dekoder.org. Er ist work in progress und kann sinnentstellende unfertige Teile und Fehler enthalten.
von Ulf Schleth
Zuletzt hielt die Beziehung nur noch wegen der Kinder. Bis zu diesem Punkt hatte ich gedacht, dass ich und alle um mich herum emanzipiert seien. Alle waren immer sehr betroffen, wenn sie von sexistischen Übergriffen hörten, aber das war ja nicht unsere Welt; wir sind emanzipiert. Ich war überrascht, als ich merkte, dass wir selbst blöde Sexist*innen waren.
„Wenn die Trennung kommt, fühlt sich der Deal, mit dem alle vorher so wahnsinnig zufrieden waren, rückwirkend nicht mehr ganz so perfekt an“, schreiben die Autorinnen Heike Blümner und Laura Ewert in ihrem Trennungsratgeber „Schluss jetzt“. Ich hatte die klassische Rolle als Familienversorger nie gewollt, war aber nach und nach in etwas Ähnliches hineingerutscht. Vielleicht auch, weil meine damalige Partnerin sich ihre Rolle als aufopferungsvolle Mutter zum Lebensinhalt gemacht und ich es als Kind gelernt hatte, mir Dinge von Frauen abnehmen zu lassen. Wir erfüllten unsere klassischen Geschlechterrollen ganz gut. Bis es nicht mehr ging.
Dann kam der Familienrichter und beschloss, dass die Kinder aus genau diesem Grund mehr bei ihrer Mutter als bei mir leben sollten. Die fand sowieso, die Kleinen würden zu ihr gehören, weil sie in ihrem Bauch herangereift sind.
Eine Mediatorin des Jugendamts schlug vor, dass ich doch alle zwei Wochen am Wochenende Spaß mit den Kindern haben und die Mutter sich den Rest der Zeit um sie kümmern könne. Mein Vater gratulierte mir, ich hätte jetzt endlich mehr Zeit für Männersachen. Sexistische Erwartungshaltungen regneten nur so hernieder.
Aber was hilft gegen Sexismus?
Ich lief zur feministischsten Freundin, die mir einfiel, um herauszufinden, wie es so weit kommen konnte. Breitbeinig warf ich mich in ihren Sessel und verlangte: „Erklär mir den Feminismus.“
Sie wollte nicht mit mir reden, ich sei ihr zu cis-männlich, sagte sie. Ich verstand das erst nicht. „Cisgender“ bedeutet, dass die Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. Ich lernte aber, dass der Begriff in sozialen Medien kampfrhetorisch auch für „rollenkonform“ oder „macho“ verwendet wird. Das ist keine gute Idee wie ich finde, weil es auch Cis-Feministinnen gibt, aber das traf es: Ich hatte nicht das Recht, in feinster Sexistenart davon auszugehen, dass sie sich freuen müsste, mir den Feminismus zu erklären.
Es folgte der Besuch einer Vorführung von Lizzie Bordens Film „Born in Flames“; eine tolle Abrechnung mit dem Patriarchat, aber ziemlich harter Tobak. Im Saal fast nur Frauen, gefühlt ausschließlich Feministinnen. Und ich. Nirgendwo ein roter Teppich.
Über mir saßen Leute auf einer Galerie. Plötzlich kippte jemand ein Glas Rotwein um. Auf meinen Kopf. Der Wein rann mir übers Gesicht wie die blutigen Tränen eines ängstlichen alten weißen Mannes. Alle lachten. Für einen Moment musste ich mit dem Impuls kämpfen, das als Angriff zu verstehen. Aber ich war ja nur hier, um zu lernen, warum sollte mich jemand angreifen? Sich aus einem von Unsicherheit verursachten Verdachtsmoment heraus persönlich angegriffen zu fühlen, hat doch in erster Linie etwas mit mangelndem Selbstwertgefühl zu tun. Dann lachte ich mit und es war gut.
Wer anfängt, sich für etwas Selbstverständliches wie Gleichberechtigung zu engagieren, sollte nicht den Fehler machen, Dankbarkeit zu erwarten. Man macht sich wenig Freunde damit, bei sexistischen Witzen nicht mehr mitzulachen und andere auf ihr rollenkonservatives Verhalten hinzuweisen. Genauso wenig, wie man Anerkennung von Feminist*innen erwarten kann oder sollte.
Die erste Lektion
Die erste große Offenbarung war, dass Sexismus nicht einfach ein bisschen Ungleichheit und Diskriminierung zwischen den Geschlechtern ist, sondern in vielen Facetten tief in alle gesellschaftspolitischen Strukturen hineingreift und schon seit Jahrhunderten eine feste Säule unserer und anderer Gesellschaften ist, die von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Sexismus betrifft alle Geschlechter. Nur wird Unterdrückung deutlicher wahrgenommen, wenn man schlechter bezahlt wird und regelmäßig körperlichen und psychischen Übergriffen ausgesetzt ist, wie sehr viele Frauen, als wenn man lediglich dazu verdammt ist, Fußball zu gucken, sich um den Grill zu kümmern und seine Sorgen mit ein paar Bier wegzutrinken.
Grundlagenliteratur
- Cordelia Fine: „Die Geschlechterlüge“. Stuttgart : Klett-Cotta, 2012. Wird unser Rollenverhalten biologisch definiert, oder durch die Gesellschaft?
- Meredith Haaf, Susanne Klingner, Barbara Streidl: „Wir Alphamädchen: Warum Feminismus das Leben schöner macht“, Hamburg : Hoffmann und Campe, 2008. Eine Einführung.
- Laurie Penny: „Unsagbare Dinge: Sex, Lügen und Revolution“, Hamburg : Edition Nautilus, 2015. Über den modernen Feminismus.
- Angela McRobbie: „Top Girls: Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes“, Wiesbaden : Springer VS, 2016. Studie zum Zustand des Feminismus.
- Margarete Stokowski: „Untenrum frei“, Hamburg : Rowohlt, 2016. Über das Aufwachsen in einer sexistischen Gesellschaft.
- Almut Schnerring, Sascha Verlan: „Die Rosa-Hellblau-Falle – Für eine Kindheit ohne Rollenklischees“, München : Verlag Antje Kunstmann GmbH, 2014. Erziehungsratgeber.
- Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser: „Feminism for the 99%. A Manifesto.“
Mehr Literatur in der Genderbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin.
Männer sind Nutznießer und Erfüllungsgehilfen des Patriarchats, aber sexistische Mechanismen richten sich natürlich auch gegen sie. Nicht nur in Form ihrer geringeren Lebenserwartung aufgrund höheren, immer noch als „männlich“ geltenden Alkohol- Zigaretten- und Fleischkonsums. Sondern vor allem immer dann, wenn sie etwas tun möchten, das nicht den Erwartungen entspricht, die die sexistische Gesellschaft an sie stellt. Wenn sie beispielsweise nach einer problematischen Trennung ihre Kindern gleichgestellt betreuen möchten. Wenn sie, wie ich, als Junge Ballett tanzen oder häkeln wollen, dann aber von ihren Freunden ausgelacht und „schwul“ genannt werden, was – man mag es kaum glauben – in deutschen Schulen noch immer als Beleidigung gehandelt wird.
Oder wenn sie gar tatsächlich homo- oder bisexuelle Neigungen in sich spüren und ihnen zu Verstehen gegeben wird, nicht „männlich“, nicht „richtig“ zu sein. Wenn sie einfach nur mal heulen “wie Mädchen”, oder wenn sie aufgrund ihrer auf körperliche Auseinandersetzungen getrimmten Erziehung zum Militär gehen und ihm als Kanonenfutter dienen. Wem die Befürchtung vermittelt wird, nicht „normal“ zu sein und „nicht dazuzugehören“, wenn er oder sie die gestellten Ansprüche nicht erfüllt, hinterfragt weniger. Die Erwartungskeule kann sanft zuschlagen, tut es aber immer und immer wieder – sie prägt nachhaltig und schränkt so ganz nebenbei und unbemerkt die Entscheidungsfreiheit ein.
Für diese „peer pressure“, also den Druck des Umfeldes, sind nicht einmal körperliche Gewalt oder Beschimpfungen nötig. Es reichen Gesten, Blicke, Kommentare. Der Junge, der nach einer Prügelei ausgeschimpft wird, spürt immer noch deutlich den Stolz seines Vaters, daß er nicht zurückgewichen ist. Das erleben Mädchen seltener. Die werden dafür wesentlich häufiger gefragt, ob sie denn später Kinder bekommen möchten. Diese und viele andere Dinge ändern sich auch im Erwachsenenalter nicht.
In Gesprächen im Bekanntenkreis hörte ich die immer gleichen Entgegnungen: „Was ist falsch daran, mich rollenkonservativ zu verhalten? – Wir sind nun mal unterschiedlich. – Es sind die Gene. – Es liegt in der Biologie der Frauen, empathisch zu sein, Kinder zu bekommen, und in der der Männer den Wettkampf und die Baumärkte zu lieben, stark zu sein und die Familie zu versorgen. – Wieso willst du uns gleichmachen? – Ich möchte männlich bleiben.“
Die zweite Lektion
Mit einer Freundin sprach ich lange über Flirtsituationen. Wir dekonstruierten unser geschlechtstypisches Verhalten, indem wir uns vorstellten, wir würden es über Bord werfen. Am Ende hatte sie nackte Panik in den Augen: „Aber wenn ich mich nicht mehr schminke, lasziv bewege und sexy Zeug anziehe, fühle ich mich nicht mehr als Frau.“
In allen Diskussionen schien das Hinterfragen des eigenen Rollenbilds große irrationale Angst auszulösen: vor dem scheinbar drohenden Verlust der eigenen sexuellen Identität und der vermeintlichen Sicherheit, die falsche Rollenbilder und andere autoritäre Strukturen geben können.
Rollenverhalten ist, belegt durch zahlreiche Studien, nur zu einem kleinen Teil biologisch oder genetisch bedingt und zu einem sehr großen durch gesellschaftliche Erwartungen. Feminist*innen geht es darum, diese zu reflektieren und sie schlicht nicht zu erfüllen, falls sie die eigene Freiheit oder die eines anderen einschränken. Niemand kann dadurch Männlichkeit- oder Weiblichkeit verlieren. Jedes Geschlecht sollte sich schminken, Fußball spielen, Geld verdienen oder Kinder erziehen dürfen.
Die dritte Lektion
Meine frühere Unlust, das eigene Verhalten infrage zu stellen, ließ sich leicht erklären: Wenn es sich in der eigenen Rolle gemütlich und gesellschaftlich akzeptiert lebt, scheut man die Anstrengung, alles umzukrempeln so lange, bis einem das Ganze auf die Füße fällt.
Der Kampf zwischen den Geschlechtern tobt und treibt vor allem Männer zuhauf zu unreflektierten Abwehrreaktionen, die laut dem psychologischen Lexikon des Magazins Spektrum Psychologie dazu dienen, „die durch Signaleffekte wie Angst, Scham oder Schuld ausgelöste Unlust abzuwehren beziehungsweise unlustvolle Affekte zu vermeiden.“
Natürlich gibt es auch unter Feminist*innen Arschlöcher, natürlich unterstützen auch viele Frauen das Patriarchat und manche von ihnen üben Gewalt aus, aber: Wenn es in einer Diskussion um Gewalt gegen Frauen geht, geht es um Gewalt gegen Frauen. Nicht um Gewalt von Frauen gegen Männer, darum, daß alle Männer böse sind, oder irgendetwas anderes. Und es geht so häufig darum, weil Männer wesentlich häufiger Gewalt ausüben.
Wenn in sozialen Medien generelle Aussagen wie „Männer sind Sexisten“ fallen, ist eine typisch männliche Abwehrreaktion „aber ich bin ja / es sind ja nicht alle so.“ Solche Leute nennt man #notallmen. Erstens ist diese Behauptung in der Regel das beste Zeichen dafür, daß man überhaupt noch nicht verstanden hat, worum es geht, zweitens geht es hier um „die Mehrzahl der Männer“, nicht um alle. Es gibt es hier also keinerlei Anlass, sich persönlich angegriffen zu fühlen. Außer es gibt ihn doch.
Ein Grund, aus dem viele in Bezug auf ihre Selbstwahrnehmung zurückgeblieben sind: Männern fehlt eine feministische Männerbewegung. So ist es kein Wunder, daß die öffentliche Diskussion, inklusive #MeToo und Frauenquotenforderungen, häufig auf einer oberflächlichen Geschlechterkampfebene ausgetragen wird.
In der Aufregung um den Filmproduzenten Harvey Weinstein wurde viel geheuchelt und nicht selten vergessen, daß Weinstein zwar ein Monster ist, aber die Gesellschaft, die jemanden wie ihn hervorbringt, die Mutter und der Vater dieses Monsters zugleich ist und fortlaufend neue Monster produziert. Es ist davon auszugehen, daß einige von denen, die sich am lautesten empört haben, nach denselben sexistischen und machtausbeuterischen Prinzipien leben wie Weinstein selbst.
Aber selbst wenn die Debatte zu selten die tief liegenden sozialen Ursachen rational behandelt, wird der Handlungsdruck auf die Gesellschaft erhöht, und das bewirkt notfalls auch ohne breite Männerbeteiligung weitere Fortschritte bei der Gleichberechtigung.
Die vierte Lektion
Das Ende meiner Beziehung war ein Neubeginn. Seit sechs Jahren arbeite ich daran, den eigenen Sexismus abzuschütteln. Die soziale Prägung und das angelernte Verhalten sitzen tief. Unterdrückte Neigungen zu weiblich konnotiertem Handeln, mehr Empathie, reflexartige Sexismusabwehr entwickeln sich nur schrittweise.
Die rollenneutrale Erziehung der Kinder ist schwierig. Man vergisst ausgerechnet die Jungs schnell dabei, obwohl gerade für sie ein kritischerer Umgang mit ihrer Rollen wichtig wäre. Die Kinder sind durch Familie, Freunde, Kita und Schule einer Vielzahl von Rollenbildern ausgeliefert, die meisten davon hoffnungslos veraltet. Und so spielen die Jungs weiter Star Wars und die Mädchen Prinzessin Lillifee. Verbote helfen da nicht weiter. Darüber reden und die eigene Vorbildfunktion zu erfüllen hingegen schon.
Was die Trennungsproblematik angeht, habe ich es geschafft, „umfänglichen Umgang“ mit meinen Kindern zu haben, wie es im Amtsdeutsch genannt wird. Das hat mit Gleichstellung nicht viel zu tun, ist aber mehr, als viele erwarten können. In einer Gesellschaft in der „Elternzeit“ noch als große Errungenschaft gefeiert wird, kann ich anderen und auch angehenden Eltern nur empfehlen, sich frühestmöglich ausführlich mit der Rolle zu befassen, die sie übernehmen wollen. Denn selbst wenn es in einer Beziehung Absprachen gibt, daß man bei einer Trennung ein Wechselmodell anstrebt: Sollte es zu ihr kommen, kann es, wenn sie konfliktbeladen ist, am Ende ganz anders kommen.
In einer gleichgestellten Gesellschaft würde dieser „Subkultur des Leidens“, in die viele Trennungsfamilien geraten, viel Konfliktpotential entzogen. Bis dahin ist man gut damit beraten, sich bei der Partner*innenwahl an Feminist*innen zu halten.
Feminismus ist am Ende humanistisch. Er sensibilisiert für jede Art von Unterdrückung und Machtausbeutung, Das Herabsetzen anderer ist anscheinend vielen die einzige Nahrung für ihr Selbstwertgefühl. Dazu zählen unter anderem auch die Diskriminierung aufgrund von Rassismus, sozialer Herkunft, des Alters und des Aussehens einer Person. Darüber hinaus gehen Menschen nicht nur miteinander so um, sondern auch mit anderen Spezies. Zum Beispiel, um sie mit einem besseren Gewissen essen zu können. Feministisch zu leben hat mich nicht nur zufriedener und freier, es hat mich auch zum Vegetarier gemacht.
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