Die gelebte Zeitmaschine
Erweiterter Abstract zur interfiction XXIII/2016
von Ulf Schleth
Zeitmaschinen1 im klassisch-fiktionalen Sinne erlauben es, mit der Reisedauer eines Wimpernschlags in jede Zeit zu reisen und mit der dort vorgefundenen Umgebung zu interagieren. Wir können uns erst dann dieser Definition annähern, wenn wir sie einschränken. Tun wir das, lassen sich existierende Zeitmaschinen entdecken und solche, deren “zeit”nahe Umsetzung DENKBAR wäre. Schon das einfache Dasein fließt in der Zeit. Innerhalb dieses Daseins stehen uns Maschinen zur Verfügung, die das Zeiterleben durch Verlangsamung2, Pausieren, Beschleunigen und Schleifenbildung verändern3 4. Zuweilen ungewollt; die Auslöseverzögerung bei älteren Digitalkameras läßt uns die nahe Zukunft abschätzen, „operational glitches“5 können Menschenleben kosten.
Verschiedene Formen von ZEITKAPSELN sind schon lange Bestandteil unserer Lebenskultur. Wie die von der Astrobiologie untersuchten extraterretrischen Lebensbausteine6 oder die Eier der Artemia nyos7 8 werden diese Zeitkapseln zu neuem Leben erweckt, mit dem Unterschied, daß sie im Gegensatz zu den Krebstieren über keinerlei Bewußtsein (vorausgesetzt, Salinenkrebse verfügen über eine Form von Bewußtsein) verfügen. Versuchen wir, die Gegenwart des Daseins zu dokumentieren, durch Beschreibung, Abbildung, Kopieren oder Klonen von Materie, halten wir die Vergangenheit in den Händen.
Je höher die Auflösung der Dokumentation ist, desto genauer beschreiben wir die Vergangenheit. In den Rechenzentren lagern detaillierte Informationen über Verhalten und Vorlieben einzelner Menschen. Diese Informationen sterben und altern nicht, sie werden in den wenigsten Fällen9 gelöscht und schwellen zu einer Parallelwelt aus anthropogenen Artefakten an, deren Dichte immer weiter steigt. Je höher deren Dichte, desto eher kann durch Reverse Engineering eine Persönlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens charakterisiert werden und desto besser können wir die Daten nicht nur missbrauchen, sondern auch als Material für Zeitmaschinen verwenden.
Sollte es, ähnlich wie es für Teleportation10 notwendig wäre, gelingen, die Oberfläche zu durchdringen und die Auflösung ins Subatomare zu steigern, hätten wir den SNAPSHOT eines Moments, den wir mit uns in die Zukunft nehmen könnten. Würden wir diesen Snapshot zu Leben erwecken, wäre ein Moment der Vergangenheit unbeschadet in die Zukunft gewandert und führte dort seine eigene Zeitlinie fort11.
Die Zukunft in die Gegenwart zu bringen, stellt sich komplexer dar. Nennenswerte Zeitreisen12 durch Zeitdilation13 oder relativitätstheoretische Wurmlöcher scheinen zu spekulativ, rechnerischen Reisen sind durch die Komplexität der ein Ereignis bestimmenden Faktoren durch Entropie Grenzen gesetzt, doch Simulation kann Näherungen erreichen, durch 3D und VR erleb- und durch KI interaktionsfähig gemacht werden.
Die Zeit als holistisches Konzept
Kultur besteht aus nichts anderem als der Produktion von Zeitkapseln, die durch Begebenheiten der Gegenwart geöffnet und in Zukunft transformiert werden. Die Zukunft ist eine Folge der Vergangenheit, also nicht unabschätzbar. Im Moment der Gegenwart fließt sie in die Vergangenheit und die Vergangenheit mündet in die Zukunft. Hält sich die Entropie im Betrachtungsraum in überschaubaren Grenzen, können Voraussagen getroffen werden. Die Gegenwart ist eine Zeitmaschine und kein Punkt auf einer Einbahnstraße.
Bewußtes und Unbewußtes sind eine Zeitmaschine. Medien bzw. Kultur sind gleichermaßen ihr Treibstoff und ihr Produkt. Betrachten wir Kultur genauer, sehen wir, daß sie als holistisches Gesamtkonzept Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bereits in sich trägt14. Sehen wir uns einen Ausschnitt von Kultur an, offenbart sich uns ihr holografischer Character. Wir sehen das Ganze im Teil, wenn auch in geringerer Auflösung. Assoziationen lassen Vergangenes auferstehen, zukünftiges entstehen und machen es emotional wahrnehmbar.
Der Gedanke an Zukunft ist seit der frühen Industrialisierung von einem blinden und überzogenen Fortschrittsglauben beherrscht, der nicht abreißen will und enormen Druck auf weite Teile der „westlichen“ Kultur ausübt. Aus diesem Gedanken wurde auch die Idee der Zeitmaschine geboren. Sie ist gleichsam Produkt des technologischen Innovationszwanges und Fluchtfahrzeug, um ihm zu entkommen. Noch in den 1980ern glauben viele Menschen, ab dem Jahr 2000 würde Unmögliches möglich werden15. Mangelnde Nachhaltigkeit und ein Denken in kurzen Zeitspannen nur innerhalb der Grenzen der Wohlstandsgesellschaft wird zu einem gesellschaftlichen Hauptproblem und so bildet sich allmählich das Bedürfnis, einen anderen Umgang mit Zeit zu entwickeln16 17.
In stark kreationistischen Religionssystemen wäre die Erfindung einer Zeitmaschine nicht möglich / notwendig gewesen: dort übernimmt das Glaubenssystem die Funktion einer Zeitmaschine. In anderen, besonders östlichen Kulturkreisen herrscht schon seit langem eine holistische Anschauung von Zeit vor und in der Regel steht das Individuum in diesen Gemeinschaften eher im Hintergrund. In der westlichen, das Individuum stark betonenden Gesellschaft ist der Wunsch größer, durch Wissenschaft das Leben und die Fähigkeiten des Menschen über ihre Grenzen hinaus ins Unendliche zu dehnen und die eigene Zukunft oder Vergangenheit zu berühren. So fest wie möglich.
Mögen Zeitmaschinen obsolet sein. Eine romantische Illusion. Wie Seifenblasen, die nicht platzen wollen. Sie verfügen über nicht zu unterschätzende Funkionen. Eskapismus, Fluchtwegplanung in schweren Zeiten und dystopische Projektion. Mentale Reisen durch die Zeiten versöhnen uns mit dem Vergessenen und dem Unbekannten, dem Bewußtsein und dem Selbst. Sie sind ein wichtiges Instrument für kulturelle Arbeit18. Science Fiction ist ein soziokulturelles Paradigma, das nicht nur unsere Fiktionen formuliert, sondern auch unser Handeln bestimmt19. Sie ist immer auch ein Auf- und Verarbeiten der Vergangenheit, das hat sie mit der Zukunft gemein.
Wir treffen auf Orte und Gesellschaften, in denen für uns die Zeit entweder stehengeblieben 20 21 oder unser eigenen voraus zu sein scheint. Als existenziell empfundene Nöte katapultieren uns schnell kulturell und derzeit besonders auch sozial in die Vergangenheit oder lassen uns mehrere Schritte auf einmal nach vorn tun. Nur logisch, daß Zeit auch anderen gesellschaftlichen Gepflogenheiten unterliegt; Zeitdiskriminierung22 gehört zum Handwerkszeug sozialer Systeme. “Seiner Zeit weit voraus sein” ist ein Griff in die Zukunft. Wir wiederholen uns im Schaffen von Zukunft. Zukunft wird vergessen. Adaptiert und neu geschaffen.
Das kollektive Bewußtsein ist genau wie das indiviuelle leicht zu täuschen, aber eine als real wahrgenommene zeitliche Täuschung hat in einem variablen Rahmen denselben Wert wie die Realität selbst. Wenn wir uns zu einem großen Teil durch den Spiegel unser kulturellen Gemeinschaft wahrnehmen, besteht unser Selbst schon zu Lebzeiten aus Erinnerung, die mit uns durch die Zeit reist.
Wir können in Online-Foren auf die Nachrichten von Toten reagieren, doch sie hören uns nicht. Wir können unsere Gehirne noch nicht in kleine Kisten mit Netzanschluss überspielen, wohl aber fortgeschrittene Eliza-Bots mit unseren sprachlichen Eigenheiten füttern und so als perfekte Illusion23 unser eigenes Ableben überdauern24. Aber unabhängig davon, ob eine Zeitmaschine assoziativ-mentaler Natur ist, oder physikalisch Materie einfriert und über Zeiträume bewegt, letztlich können von uns geschaffene Zeitmaschinen immer nur ein Teil der Zeit sein, die wir bereits leben.
- Zeitmaschine in der Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Zeitmaschine
- Verlangsamung des Zeitablaufs in der Kunst: Boden, Roland: „Kronos-Projekt“, 2014
- Thorsten Lorenz, Das Zittern des Körpers. Medien als Zeitmaschine der Sinne, in: G. Bukow et al. (Anm. 2), S. 23–46
- Sebastián Marincolo: „Marihuana und verlangsamte Zeitwahrnehmung“(2013)
- Christian Heck über Zeit, Wahrnehmung und Drohnenkrieg: „operational glitches“
- Interview mit Pascale Ehrenfreund (seit 2015 Vorstandsvorsitzende des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt): „Leben im All – Wo bleiben die Außerirdischen?“
- Artemia nyos in der Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/Sea-Monkeys
- mental_floss: „16 Amazing Facts About Sea-Monkeys“
- Ulf Schleth: Datenfriedhof /death/null
- Manfred Lindinger, FAZ, 7.3.2015: „Bühne frei für die Quanten-Magie“
- Fiktionale Umsetzung des Zeit-Snaphots: Die Serie „West World“ (2016)
- Die Zeitreise in der Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Zeitreise
- Zeitdilation in der Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Zeitdilatation
- „Die Zukunft steckt in der Gegenwart“, Zukunftsforscher Bernd Flessner auf dctp über Arno Schmidt und Stanislaw Lem
- In der Science-Fiction-Film-Trilogie „Zurück in die Zukunft“ liegt die maximal vorstellbare Zukunft im Jahr 2015.
- „Es ist eine Lüge, keine Zeit zu haben“, taz-Redakteurin Annabelle Seubert interviewt den Schriftsteller Karlheinz Geißler
- Zu den Projekten der 1996 gegründeten Long Now Foundation gehören Seminare zum Denken in langen Zeiträumen, aber auch das Schaffen der Uhr „Clock of the Long Now“, die über 10000 Jahre die korrekte Zeit anzeigen soll. Siehe auch Fischer, Vera: „Vom langen Jetzt – Eine medienphilosophische Zeitreise zur Long Now Foundation“, transcript Verlag, 2017
- Hörner/Antifinger: Istanbul Time Travel Experiment
- welt.de vom „Warum Sci-Fi-Autoren öfter ins Schwarze treffen“ über Zukunftsforscher Bernd Flessner:
- „Lost Places und Halloween: Das sind die neun gruseligsten Orte in Thüringen“, thueringen24.de, 30.10.2016,
- „Schlagwort: Lost Places“, berlinart2.com
- Als Beispiel: Öffentliche Wahrnehmung von Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ (2008) vs. Kathy Ackers „Harte Mädchen weinen nicht.“ (1984)
- Irgendwann in den 90ern: Ein User kam in den Admin-Chat der The Thing BBS Berlin, ohne zu wissen, dass er mit einem selbsterweiterten Eliza-Bot sprach. In der Annahme, mit mir zu sprechen, gab er ein paar ironische Bemerkungen von sich, die der Bot entsprechend erwiderte. Der User fing an, zu streiten. Eine Übernahme des Chats war wegen einer Störung der Tastatur nicht möglich, so daß ich nach 20 Minuten das BBS ausschalten und zum Telefon greifen musste. Im Gegensatz zu damals gibt es heute Bots, die den Turing-Test bestanden haben.
- Fiktionale Umsetzung in der Serie „Black Mirror“ (Staffel 2, Episode 1), in der ein Bot die Identität eines Verstorbenen annimmt, indem er sein Profil in einem sozialen Netzwerk analysiert.
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