Ein einzigartiges Labor

Von Seda Niğbolu und Ulf Schleth

Berlin Atonal: David Borden mit einem Mitglied des Mother Mallard Ensemble.

Weniger laut aber auch sehr schön: David Borden mit einem Mitglied des Mother Mallard Ensemble. Foto: Ulf Schleth

Experimentelle Musik gibt es viel in Berlin, aber kein zweites Festival wie »Berlin Atonal«. Am Sonntag endete im Kraftwerk die dritte Ausgabe seit der Wiederbelebung 2013. Mit Haut und Haaren hat sich diese Reihe den (musik-)ästhetischen Entwicklungen im postindustriellen Zeitalter verschrieben. Das galt schon in der avangardistischen Phase »nonkonformer Musik« in den 80ern, in der Bands wie Einstürzende Neubauten oder Malaria! für Aufruhr sorgten. Und auch für die nachfolgenden Jahre im Tresor des Festival-Gründungsvaters Dimitri Hegemann, der bis heute Chef ist.

Die lange Tradition war in mächtigen Klanggebilden gegenwärtig. Noise, Industrial, Dark Ambient und experimenteller Techno standen auf dem Programm, schrille Synths und vibrierende Bässe von Lustmord oder Clock DVA, Russell Haswell oder Bitstream. Neben Konzerten und DJ-Sets gab es Filmvorführungen und Installationen. Die überragende Rolle aber spielte an den fünf Tagen das ehemalige Heizkraftwerk in der Köpenicker Straße, das heute auch die Clubs Ohm und Tresor beherbergt – schon von den Dimensionen her einer der beeindruckendsten Veranstaltungsorte der Stadt.

Die imposanten Räume schafften einigermaßen Abhilfe, was die mangelnde Durchschlagskraft von Livepräsentationen Laptop-basierter Musik angeht. Überall konnte man den Sound atmen und spüren. Viele Konzerte waren von visuellen Shows begleitet, und nicht wenige – wie »Immediate Horizon« von Alessandro Cortini und Lawrence English – Premieren. Manche Visuals starrte man allerdings nur an, weil man keine Wahl hatte. Weil sie zehn Meter hoch waren, sich bewegten und deshalb präsenter als die Performer waren. Mitunter fragte man sich schon, ob das Glotzen auf einen riesigen Bildschirmschoner nicht doch unangemessen ablenkt. Gleichwohl hätte man schon gern erfahren, von wem die Filme stammten. Leider ließen sich viele Namen mitwirkender Künstler weder auf der Website noch im Programmheft finden.

Aufgrund von glasklaren musikalischen Richtlinien reihten sich an manchen Tagen sehr ähnliche Konzerte aneinander. Da kam es schon mal zu eintönigen Stunden, alles verschluckenden Bässen oder taub machenden Drones, alles ewig tief, alles ewig dunkel. Für bitter nötige Abwechslung sorgten Musiker, die die Bühne auch körperlich meisterten. Das waren etwa Faust mit Tony Conrad oder Urgestein David Borden mit seinem Mother Mallard Ensemble, der seine Historienmalerei der Synth-Musik mit Elementen der Gegenwart zu einem Klangabenteuer verwoben hat, einem akustischen Film vor dem inneren Auge des Besuchers.

Die Klänge angemessen differenziert wahrzunehmen, war nicht immer ganz einfach im absorbierenden, vernebelten Raum des Kraftwerks. Manchmal verstärkten Hall und Echo das Problem noch. Feinheiten wurden nivelliert, Details in Stücken von Ben Frost oder Alessandro Cortini entfielen. Bei vereinnahmend aggressiven Sounds wie denen von Samuel Kerridge spielte das nicht so die Rolle, solche Musik lebt vom Bombastischen. Wenn ein Musiker aber komplex und mit weniger Lautstärke daherkam, bereitete das Zuhören Schwierigkeiten. Und dann wurde auch noch so lautstark diskutiert, als wäre man bei einer Galerieeröffnung und nicht auf einem Konzert.

Auch in solchen Momenten war das »Atonal« letztlich eher eine große Klanginstallation als eine Aneinanderreihung einzelner Auftritte. Ein einzigartiges Labor, das man je nach Laune betrat und wieder verließ, um sich über die Lage der zeitgenössischen elektronischen Musik zu informieren, Hörgewohnheiten zu hinterfragen, sich inspirieren zu lassen. Ein konzentrierter Erlebnisraum, in dem Entwicklungen der Stadt und eines gewissen Teils der internationalen Musikkultur reflektiert wurden. Für ein Festival ist das sehr viel. Die Tage waren intensiv, manchmal atemberaubend schön, manchmal vom ungeduldigen Warten auf die Zukunft geprägt und, wie eines der wenigen Kinder im Publikum anmerkte, »ganz schön laut«.

Dieser Text erschien am 26.08.2015 in der “jungen Welt”.

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