Missbrauchsvorwürfe gegen Jacob Appelbaum
von Ulf Schleth
Vor sechs Jahren wurde Wikileaks-Leiter Sprecher Assange sexueller Übergriffe bezichtigt. Nun werden auch gegen den bekannten Aktivisten für Informationsfreiheit und Mitarbeiter des Anonymisierungsnetzwerks TOR, Jacob Appelbaum ähnliche Vorwürfe erhoben. Auf jacobappelbaum.net erschienen anonym verschiedene „Stories“, die von Missbrauch seitens Appelbaum berichten. Diese Stories tragen lediglich die Vornamen der angeblichen Opfer. Einige der Links auf der Seite enthalten zum jetzigen Zeitpunkt gar keinen Text. In dem amerikanischen News-Portal .Mic erschien gestern ein Text, der alles zusammenfasst, was über die Vorwürfe bekannt ist. Die ausführende Direktorin von TOR, Shari Steele, schreibt in einer Stellungnahme, man habe mit mehreren Betroffenen, die wohl zumindest teilweise ebenfalls für das Tor-Projekt arbeiten, gesprochen und nach langen internen Diskussionen habe Appelbaum sich entschlossen, das Projekt zu verlassen. Sie erwähnt dabei nicht, daß Appelbaum schon ein Jahr zuvor wegen Fehlverhaltens für zehn Tage vom Dienst suspendiert wurde.
Weiter schreibt sie, daß das Projekt sich mit einer Firma zusammengetan habe, die damit beauftragt wurde, die Vorwürfe zu untersuchen. Unklar, warum sie sich öffentlich zu anscheinend nicht geklärten Anschuldigungen gegen einen Mitarbeiter äußert. In derselben Stellungnahme bittet sie darum, das Tor Projekt zu informieren, falls ein Leser Kenntnisse zu den Geschehnissen hat. Eine Woche vor dieser Mitteilung postete Andrea Shepard, eine Tor-Entwicklerin, die Appelbaum noch auf dem Chaos Communication Congress 2014 gegen Belästigung in Schutz genommen hatte, auf Twitter den verschlüsselten Satz „It seems one rapist is one rapist too many“, hat aber bei der Frage nach der Bedeutung ihrer Nachricht auf die Tor-Leitung verwiesen. Von polizeilichen Ermittlungen ist nichts bekannt.
Angenommen Hans S., Bürger der Kleinstadt B. bezichtigt seine Nachbarin Uschi R., seinen Hund vergiftet zu haben. Hat diese Verdächtigung Nachrichtenwert? Sollte sie in der lokalen Tageszeitung veröffentlicht werden, noch dazu auf Seite 1, wird allein die Anschuldigung Uschi R. stigmatisieren. Die später möglicherweise folgende Nachricht ihrer Rehabilitierung wird nicht so hochgekocht werden, wie ihre Beschuldigung, sie wird einen Großteil von B.’s Bevölkerung gar nicht erreichen und Uschi R. wird für viele Jahre für jeden toten Hund in B. verantwortlich gemacht werden. Lokaljournalisten, die nicht dem Boulevard angehören, wissen das. Sie wissen, daß so eine Veröffentlichung nicht ohne vorherige Recherche oder Ermittlung mit dem journalistischen Berufsethos vereinbar ist.
Sogar der Online-Auftritt der Zeit, der eigentlich einen eher respektablen Ruf genießt, ist sich nicht zu schade, die bisher komplett faktenfreie Nachricht (wenn man das Erheben von Vorwürfen nicht zum Fakt mit Nachrichtenwert erhebt) offenbar komplett ohne weitergehende Recherche abgeschrieben für kurze Zeit auf Platz 1 zu veröffentlichen. Hinzugefügt hat die Zeit nur Appelbaums Jahresverdienst, was dem Text einen noch unangenehmeren Beigeschmack gibt. Googeln ist nicht das selbe wie recherchieren.
Zeit Online veröffentlichte den Text, obwohl zu den Untersuchungen der von Tor beauftragten Firma noch keine Ergebnisse bekannt sind, obwohl bekannt ist, daß allein die Erwähnung solcher Vorwürfe sehr schnell zu Vorverurteilung und nachhaltiger Rufschädigung führt, obwohl Appelbaum wegen seines möglicherweise offenen Umgangs mit Sexualität ein leichtes Ziel für Vorwürfe sein könnte, obwohl klar ist, daß sowohl das Tor-Projekt, als auch Jakob Appelbaum selbst ein Dorn im Auge diverser Staaten und ihrer Geheimdienste ist, hier eine erhöhte Sensibilität geboten ist und obwohl bekannt ist, daß zum Beispiel der britische Nachrichtendienst „Government Communications Headquarters“ gezielt solche Vorwürfe einsetzt, um unliebsamer Gegenspieler Herr zu werden. Offenbar werden Klickzahlen hier höher gewichtet als Persönlichkeitsrechte. Eine Vorgehensweise, die man von bild.de erwarten würde, nicht aber von seriösen Medien.
Die Frage ist bei solchen Vorwürfen immer: Wem nützt es, wenn sie in den Medien verhandelt werden, bevor das genaue Geschehen bekannt ist. Wer hat etwas davon? Die anderen großen Online-Medien haben inzwischen nachgezogen. Wenn ein Medium die Meldung hat, müss die anderen sie auch bringen, möglichst schnell, möglichst viele Klicks. Während auf reddit bereits die schnell auftauchenden Zweifel diskutiert werden. Von Verschwörungstheoretikern, aber auch von Insidern. Die Gerüchteküche kocht über, bis hin zu Mitteilungen Appelbaum habe Selbstmord begangen. Das Publikum geifert und giert nach Sensationen und es wird befriedigt. Wer ungesicherte Informationen öffentlich macht, muss sich selbst fragen, ob er hilft, einen Täter zu überführen, oder selbst zum Täter wird.
Mittlerweile hat sich der quicklebendige Appelbaum per Twitter zu Wort gemeldet. Er weist die Anschuldigungen wegen sexuellen Fehlverhaltens gegen ihn zurück und entschuldigt sich bei jenen, deren Gefühle er verletzt hat. Bis Klärung der Vorkommnisse wird sicher eine Weile vergehen. Unabhängig davon, wie deren Ergebnis sein wird, ist der Kollateralschaden aber bereits angerichtet. Der blog „femgeeks“ diskutiert über die Legitimität von public shaming und geht dabei fest davon aus, daß die Vorwürfe aus der Hacker-Community gegen Appelbaum zutreffen. Vorwürfe von Belästigung, Soziopathie und Vergewaltigung. Gegen Männer und Frauen. Ein großer Teil der Vorwürfe beschreibt strafrechtlich nicht relevante Grenzüberschreitungen, wie viele sie aus ihrem Alltag kennen.
Bei ihrer Geburt kennen Menschen keinen Respekt vor den Grenzen anderer. Wer Kinder hat, weiß das. Kinder sehen sich selbst als das Zentrum des Universums. Manche lernen diesen Respekt langsamer, manche schneller, manche nie. Daß Männer häufiger als Frauen Probleme mit diesem Respekt haben, liegt in den sexistischen Strukturen unserer Gesellschaft begründet. In dem Rollenverhalten, daß wir von klein auf lernen. Grenzen sind individuell unterschiedlich. Es liegt in den Aufgaben der Gemeinschaft, Menschen, die häufig gegen Grenzen anderer verstoßen, den Respekt anderen gegenüber näherzubringen und jemanden erst dann auszuschließen, wenn er nicht in der Lage ist, zu lernen.
„femgeeks“ sagt selbst „public shaming kann wie jede Methode missbräuchlich eingesetzt werden und als öffentlicher Pranger missverstanden werden“, spricht sich aber trotzdem dafür aus und fordert kurz später, Appelbaum vom nächsten Chaos Communication Congress auszuschließen. public shaming kann zur Selbstjustiz und schnell auch zum digital lynching werden. Jeder Mensch sollte darüber reden dürfen, wenn ihm Unrecht widerfahren ist, wenn er die Verantwortung dafür übernimmt und verantwortungsbewußt handelt. Also genau so handelt, wie es die andere Partei nicht getan hat.
Eine öffentliche Diskussion zum Thema ist mehr als wichtig und sinnvoll, aber sie hat hier blinde Empörung zum Anlass. Es werden weitere Äusserungen öffentlich, auch von Menschen, die auf ihr Anonymität verzichten und das wird die Diskussion vorantreiben. In den Medien und auf facebook, Alle werden etwas dazu zu sagen haben. Ändern wird sich dennoch nichts. Weil der Sexismus integraler Bestandteil unser Gesellschaft ist und nicht verschwinden wird, solange man ihn und die Gesellschaft nicht an der Wurzel bearbeitet. Weil die öffentliche Aufmerksamkeit wie immer nach ein paar Tagen oder bestenfalls Wochen erschlaffen wird. Und weil die Diskussion unter privilegierten Menschen geführt wird. Die Basis der Gesellschaft erreicht sie gar nicht.
Mit denen möchte eigentlich auch niemand wirklich reden. Ausser der AfD, vielleicht. Es gibt jedoch einen Ort, an dem dem sich etwas ändern kann: In der Gemeinschaft der Nerds und Hacker. Die Stimmen aus der Szene werden lauter, die davon berichten, daß es dort regelmäßig zu Fehlverhalten kommt. Peter Sunde, ein Freund von Appelbaum, erklärt das in einem erhellenden Blog-Eintrag so: „Ich erinnere mich an eine LAN-Party 1994 in Dänemark, auf der 4 Mädchen und 4000 Typen waren […] man kann sich leicht ausrechnen, daß 1000 Typen pro Mädchen für sie eine Menge Aufmerksamkeit bedeutet. Wahrscheinlich einiges mehr, als ihnen lieb ist. […] Die meisten Neulinge blicken zu sehr zu ihren Helden auf und die meisten Helden fühlen sich wie Nerds, die plötzlich ihre 15 Minuten Ruhm bekommen.“ Soziale Kompetenz im Real Life, der Umgang mit Sexismus und Aufmerksamkeit; die Community wird sich wandeln. Müssen.
Wenn jemand Verbrechen begeht, muss er dafür bestraft werden. Wenn jemand bei der Arbeit Menschen belästigt, muss er damit aufhören. Um das zu erreichen, gibt es viele Methoden. Das public shaming könnte in diesem Fall, wie die ehemalige Tor-Mitarbeiterin Shava Nerad in einem treffenden Kommentar schreibt, vor allem Zerstörung nach sich ziehen. Der mutmaßliche Täter, das TOR-Projekt, die mutmaßlichen Opfer und ihr Ruf können in Mitleidenschaft gezogen werden. Und das wird den zahlreichen Gegnern der Informationsfreiheit zugute kommen.
Das Mittel, das den geringsten Schaden anrichten kann, ist immer zuerst zu wählen. Kommt es in einer Gemeinschaft, wie hier in der des Tor-Projektes oder der Hacker-Community, zu Problemen, sollte zuerst versucht werden, sie in der Gemeinschaft selbst zu lösen, falls nötig mit Vermittlern, Beratern, Mediatoren. Als nächstes kommen die Anwälte. Viele Menschen haben besonders in Missbrauchsfällen das Vertrauen in ihr Rechtssystem verloren. Zu Recht. Das kann aber keine Rechtfertigung für Selbstjustiz sein, zumal sie meistens mehr Schaden anrichtet, als dass sie hilft und am Ende dann dafür sorgt, das alles da landet wo es nicht hin sollte: Vor Gericht.
Wer nicht unmittelbar betroffen ist, sollte sich zurückhalten, so lange auch nur der geringste Zweifel besteht. Es muss immer die Unschuldsvermutung gelten, die Verhältnismäßigkeit der Mittel muss gegeben sein, auch dann, wenn jemand ein Verbrechen begangen hat. Einrichtungen wie die Presse haben die Aufgabe, Informationen zu prüfen und abzuwägen, bevor sie Konsequenzen ziehen. Die Weltöffentlichkeit ist kein Gericht. Sie besteht zu einem Großteil aus Barbaren und hat an Recht nicht das geringste Interesse.
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