Narrative Laute
von Ulf Schleth
Moers liegt in Nordrhein-Westfalen, hat ein eigenes Autobahnkreuz und das für viele wichtigste Jazzfestival Deutschlands. Das Wort »Jazz« ist aus dem Titel verschwunden. Zu Recht, denn das mœrs festival war nie nur Jazz. Es ist über 40 Jahre alt, aber noch so jung wie beim ersten Mal. Es hat den Ruf, ein besonders offenes Festival zu sein. Für freie Musik, für Klein und Groß, Arm und Reich. Nichts lag zu Pfingsten näher, als die Kinder mitsamt Zelt und ausreichend Ravioli-Dosen ins Auto zu packen und diesen Ruf auf den Prüfstand zu stellen.
Die Dramatik der langen Fahrt von Berlin aus, vorbei an Brandenburgischer Steppe, Kohlezechen und Kühltürmen, war eine gute Vorbereitung auf das Eröffnungskonzert von Carolin Pook und sieben weiteren Violinistinnen, die unter Einsatz von Bierkisten und Küchentabletts auch die Percussion übernehmen. Die Komposition zerteilt, treibt voran und vereint die Eigenständigkeit der Violinen, so daß der Besucher weiß: Ich bin angekommen, ich bin jetzt ein Teil von Moers.
Nach dem ruhigen Folksänger Sam Amidon konnte man sich das »End of Summer« des erfolgreichen isländischen Filmkomponisten (»Sicario«) Jóhann Jóhannsson zu Gemüte führen. Zusammen mit Hildur Gudnadóttir und Robert A. A. Lowe vertonte Jóhannsson einen von ihm in der Antarktis auf Super 8 gedrehten Schwarzweißfilm, der wie ein Schattenspiel anmutete. Sound und Film spielen mit Naturgewalten, schaffen düstere Vorahnungen und ein Gefühl von Ausgeliefertsein, das von hellen und lebendigen Tierstimmen konterkariert wird.
Ein Festivaltag in Moers beginnt in der Musikschule mit den »Morning Sessions«, in denen die Künstler des Festivals improvisieren. Am Sonntag sind das Irene Kepl (Violone), Mascha Corman (Gesang), Achim Zepezauer (Elektronik) und Elisabeth Fügemann (Cello), die eine kleine Reise unternahmen, im Meer der Lebensfreude losfuhren, sich über den Strom beginnenden Wahnsinns treiben ließen, eine Zwischenstation im klangvollen Loop der Ratlosigkeit einlegten und sich am Ende unter der Dusche des rhytmischen Einklangs reinwuschen.
Mittags folgten Solokonzerte in der Stadtkirche, wie das der Isländerin Gudnadóttir (Cello und Gesang), deren melancholische Stücke das Publikum andächtig-nachdenklich zurückließen. Die »Night Sessions«, die traditionell in der Kneipe »Röhre« stattfinden, wurden in diesem Jahr von Louis Rastig, der das Berliner Festival »A L’ARME!« leitet, organisiert. Wer um Mitternacht nicht zu müde war und nicht wegen lästiger Überschneidungen mit dem Hauptprogramm fernbleiben musste, konnte hier den intimen musikalischen Dialog zwischen den narrativen Lauten von Natalie Sandtorv und dem Schlagzeug von Ole Mofjell erleben oder sich das Hirn von Doglife durchpusten lassen, deren heftiger Auftritt Einflüsse von Jazz, Punk und Drone vereinte.
Moers ist wie geschaffen für Allein- und Teilerziehende, die im kinderfeindlichen Deutschland solche Festivals, auf denen Kinder nicht nur gern gesehen werden, sondern auch freien Eintritt haben, gut gebrauchen können. Endlich können sie auch mal wieder Kultur live erleben. Für sie wäre es schön gewesen, wenn ein paar experimentellere Acts mit abendlichen Wohlfühlhighlights ausgetauscht worden wären. So wäre es möglich gewesen, den lieben Kleinen die Musik vorsichtiger näherzubringen und sich abends besser auf etwas Komplexeres zu konzentrieren.
Gefälliges gab es genug. Die No BS! Brass Band aus Virginia konnte alles: Stimmung, HipHop, Rap, a capella, klassische Big Band. Das Harriet Tubman Trio, benannt nach der bekanntesten Fluchthelferin des amerikanischen Rezessionskrieges und Cassandra Wilson brachten Funk und stimmliche Seele. Moon Hooch waren eine Art Mischung aus den modernen Madness (bloß ohne Ska) und DJ Ötzi. Sie rissen das Publikum von den Sitzen auf die Tanzbeine, während das Trio Dawn of Midi eine hypnotisierende, minimalistische Art gefunden hat, elektronische Tanzmusik mit klassischen analogen Instrumenten zu performen.
Zu den sperrigeren und im positivsten Sinne störenderen Performances gehörte das Programm »Book of Birds« von The Liz, das literarische Fragmente von Kathy Acker („Blood and Guts in High School“) und Jean Cocteau verwendet und sich mit Gender, Identität und Transformation beschäftigt. Jazzjuwelen gab es auch: Tim Isfort, der mit seinem »Zapptet« ein Jazzmuseum aufführte, inklusive eines Post-Punk-Covers, die kühleren aber mathematisch-virtuosen Medusa Beats; Warped Dreamer, ein Quartett mit Krautrockelementen und gesanglicher Doppelbödigkeit oder die aggressionsgetriebenen Amok Amor.
Nachts auf dem Weg zum Zeltplatz hörte man zuweilen akademische Jazzfreunde auf vergnügungssüchtige Weltmusikler schimpfen und die Freunde des Mainstreams („So muss ein Festival sein – vier Tage durchtanzen, nicht schlafen und dann wieder fit sein für die Arbeit“) auf die dogmatischen Akademiker. Die Festivaleitung schafft es hier, ihrem Auftrag gerecht zu werden und mit einer gegen jede Arroganz immunen Programmgestaltung alle Lager zu vereinen.
Vier Tage lang war die Festivalhalle in Moers bis zum letzten Platz besetzt. Die Kinder waren überglücklich. Sie haben erfolgreich Autogramme gejagt, wurden vom WDR interviewt und haben eine der kunstvollen Masken von „The Liz“ Liz Kosack geschenkt bekommen. Das Moers Festival machte auch in diesem Jahr Musik erlebbar, brachte Menschen, Geschmäcker und Kulturen zusammen, erweiterte Horizonte und lehrte Musik. Es bekommt durch den Händlermarkt vor der Tür Volksfestcharakter, ist durch die Ermässigung und das kostenlose Campen sozial erträglich und durch die kostenlosen Veranstaltungen wie die Sessions und Kirchensoli steht es allen offen. Durch die überall installierten Bauzäune wirkt das Festival schon optisch ein wenig eingesperrt. In den letzten Jahren haben finanzielle und politische Querelen an seinem Flair genagt.
2014 wurde es unter anderem wegen Grillspuren und Restmüll aus dem Zirkuszelt im Stadtpark in die Halle verlegt. Besucher Holger K. aus Berlin schüttelt den Kopf: „Was für ein Blödsinn. Da haben sie seit 40 Jahren ein Festival von internationaler Bedeutung und dann siedeln sie es um wegen ein bißchen Müll. Wer sich waschen will, muß sich naß machen.“ In diesem Jahr konnte erst im März durch eine 417.267-Euro-Bürgschaft der Stadt Moers die Finanzierung gesichert werden. Reiner Michalke, der künstlerische Leiter des Festivals hat Konsequenzen aus diesen Schwierigkeiten gezogen und zum Ende des Festivals bekannt gegeben, daß er der Moers Kultur GmbH die Auflösung seines Vertrages mit sofortiger Wirkung angeboten hat. Stadt und Land sollte klar sein, was sie mit Michalke verlieren würden.
Das gesamte Hauptprogramm des Festivals ist für 6 Monate auf „arte concert“ abrufbar.
Dieser Text erschien am 20.05.2016 in küerzerer Form in der “jungen Welt”. In der taz erschien ein lesenswerter Text von Philipp Rhensius.
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