“Ich frage mich, wie man sich ohne Fotos erinnern kann …”
von Ulf Schleth
Claudia Reinhardts Fotografie geht über Selbstinszenierung hinaus. Sie ist Autorin, Regisseurin und Hauptdarstellerin, ihre Fotos sind Standbilder der Filme, die sie im Kopf des Betrachters ihrer Kunst dreht. Unbequeme Filme, die sich mit Geschlechterrollen befassen, mit Gewalt gegen andere und sich selbst, mit dem Profanen des Besonderen und der Einsamkeit des Daseins. Ihre Fotos zeigen das Beängstigende am Privaten und das politische im Individuellen. Sie sind die Tränen des Mainstreams.
Im Frühjahr 2004 erschien mit “Killing Me Softly” die erste Buchveröffentlichung von Claudia Reinhardt. In einem Einband wie dem eines Vogue-Sonderheftes versammelte sie zehn Fotos ihrer Reihe “Todesarten”, begleitet von zehn schönen kurzen Texten. Jedes Foto die Inszenierung des Freitods einer Künstlerin (mit Ausnahme der Wissenschaftlerin Clara Immerwahr und des Künstlers Pierre Molinier), dargestellt von Claudia Reinhardt, jeder Text widmet sich sachlich, prosaisch oder lyrisch dem Lebens- und Sterbensweg der Künstlerin, verfaßt von jeweils einer Autorin. Julia Solis über Unica Zürn, Gaby Frank über Clara Immerwahr, Ingrid Müller-Farny über Sylvia Plath, Ingeborg Gleichauf über Ingeborg Bachmann, Annette Weber über Diane Airbus, … Die Buchpräsentation war ein gefühlsintensiver Trip durch Leben und Leiden der portraitierten Personen. Am Nebentisch flossen Tränen und niemand verließ den Saal ohne auf irgendeine Art unangenehm berührt worden zu sein. Am Ende sind die Bilder hängen geblieben, als Momentaufnahmen des Endgültigen.
Jetzt ist im Berliner Verbrecher Verlag ein neues Buch erschienen. In “No Place Like Home” beschäftigt sich Claudia Reinhardt mit ihren Wurzeln, ihrer Vergangehneit und dem Begriff der Heimat. Was man in den Lebensläufen von Claudia Reinhardt zumeist vergeblich sucht, steht hier im Mittelpunkt: Sie ist im hessischen Viernheim geboren. Einer typischen Stadt mit 30000 Einwohnern, die sich auf ihrer Website rühmt, eine Frauenbeauftragte zu beschäftigen und über ein Begrüßungskommitee für Neubürger zu verfügen: “Sie möchten bei der Integration von Neubürgern helfen.” Man sucht anfangs vergeblich nach Claudia Reinhardt. Die Bilder sind menschenleer. Es sind die Dinge, die hier in Szene gesetzt werden, ohne arrangiert worden zu sein. Triste Straßen, triste Einfamilienhäuser, Verteilerkästen in Vorgärten und der beklemmende Mief des trauten Heims. Die Tristesse wird noch gesteigert durch die Farbe des Papieres, die das Grau eines Regentages noch grauer erscheinen läßt.
Claudia Reinhardt ist eine Fotografin und dieses Buch ein Bildband und kein bebilderter Roman, auch wenn durch das etwas unglückliche Layout dieser Eindruck ensteht. Während die literarische Qualität des Textes zu wünschen übrig läßt, ist die dokumentarische umso größer. Reinhardts unbeholfener Stil verleiht den Bildern noch mehr Authentizität. Sie gibt ihre Kindheitserinnerungen im Stile eines Mädchentagebuches wieder: “Dieser Onkel war ein echtes Schwein. Er hatte eine laute, dreckige Lache und fingerte gerne an uns rum.” Sie schreibt nicht nur von sich selbst, sie schreibt von der Familie eines jeden. Von den unaussprechlichen Dingen, die man nur mit wenigen teilt, die aber doch fast alle Familiengeschichten gemeinsam haben. Deutsche Kleinstädte sind deprimierend und sie bringen Deprimierendes hervor. Aber Großstädte sind letztendlich auch nur potenzierte Kleinstädte mit ein paar Freiräumen dazwischen.
Der Verbrecher Verlag hat es mit diesem Buch geschafft, seinen ersten auch drucktechnisch wirklich gelungenen Band auf den Markt zu bringen. Nicht zuletzt mit Unterstützung der Kunstakademie der finnischen Stadt Bergen, an der Claudia Reinhardt einen Lehrauftrag inne hat.
www.claudia-reinhardt.de
Claudie Reinhardts Homepage.
“Killing Me Softly – Todesarten”
Aviva
ISBN 3-932338-21-9
EUR 29,80
“No Place Like Home”
Verbrecher Verlag
ISBN 3-935843-62-3
EUR 18,-
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