Frankenstein im Land der Klischees
von Ulf Schleth
Buddy Giovinazzo ist ein erstaunlicher Mensch. Nachdem sein wunderbarer Film „Unter Brüdern“ (besser zu sehen im Original unter dem Titel „No Way Home“), den er mit Tim Roth, Deborah Unger und James Russo besetzen konnte, damals nie wirklich in den Kinos lief, entschloss er sich, Amerika zu verlassen und sich in Deutschland mit Regiearbeiten für Tatort und Polizeiruf die Schriftstellerei zu finanzieren. Denn heutzutage verdient niemand Geld, nur weil er schreiben kann. Ausser er hat viel Glück, eine grosse Marketingmaschine hinter sich oder geht in die Werbung. Giovinazzo schien aber nie grosse Lust zu haben, sich mit seiner Literatur zu prostituieren. Warum sonst sollte er auch bei Pulp Master veröffentlichen. Einem Verlag, mit dessen Programm man locker die Sommerferien eines ganzen Menschenlebens zu einem Riesenspektakel machen kann, der sich aber nie um Konventionen oder Massentauglichkeit geschert hat. Und also auch (fast) nichts verdient.
Die Lektüre von Giovinazzos neuen Romanes „Piss in den Wind“ löst anfänglich Stirnrunzeln aus. Überall stolpert man über Klischees. Um die Schizophrenie von James Gianelli zu untermauern, wird ihm eine schwere Kindheit verpasst, in deren Verlauf er zuweilen auch schonmal Insekten in seinem Schuh zerquetscht, ins Bett pullert, versehentlich seinen Bruder erschiesst und das mit den Mädchen läuft auch nicht so gut. Er versagt beim Flaschendrehen und seine Highschool-Abschiedsballverabredung, bei der er eh nur die Rolle der Notlösung gespielt hat (was sonst), platzt. Das geht dann so weiter. Er wird Lehrer für Fotografie. Als Lehrer wird man natürlich immer von allen Mädchen angehimmelt und kann seine Studentinnen ganz locker ins Bett bekommen. Das hat er sich ja nett hingebastelt, der Giovinazzo, denkt man sich. und dann kommt der letzte Stolperstein: die Erwähnung von van Goghs abgeschnittenem Ohr. Schon immer das Nonplusultra um dem Leser zu verdeutlichen, dass man es hier wirklich mit einem extrem irren und gefährlichen (uuuhhh) Exemplar zu tun hat. Das bringt einen dann zu Fall. Man legt das Buch weg. Eine Überdosis Klischee. Bis dann etwas seltsames passiert. Die eigenen Hände verselbständigen sich und greifen sich das Ding wieder. Das übrigens wieder ein schön buntes Cover von dem Hamburger Künstler 4000 schmückt. Ohne es zu merken, ist man längst in den Sog der Handlung geraten, ist gefangen vom sich langsam steigernden Irrsinn, von der wachsenden Spannung, wie weit Gianelli es noch treiben wird, ob es ihm nicht reicht, seine eigene Frau umzubringen und in den Fluten zu versenken nur um kurz darauf eine längerfristige Beziehung mit einer anderen Wasserleiche zu beginnen. Erst tut Gianelli einem Leid, man denkt sich „was für ein Würstchen, weil er mit einer echten Frau nicht leben kann, schafft er sich eine in seiner Phantasie, endlich hat er Macht über jemand anderen, jemanden, den er sich formen kann wie es ihm beliebt, wie erbärmlich“. Bis einem klar wird, dass nicht Gianelli es ist, der die Macht hat. Man beginnt die Schizophrenie zu spüren, wie sie einem den Rücken hochkriecht. Bis ganz nach oben ins Hirn gelangt sie aber zum Glück nicht, Giovinazzos Humor verhindert weiterreichende Kollateralschäden beim Leser. Sein trockener Witz ist es auch, der es leichter macht, die Botschaft zu erkennen.
Um „Piss in den Wind“ zu lesen, muss man nicht bis zu den Sommerferien warten, es ist genau die richtige Lektüre, um diesen ekligen, abgebrochenen Winter zu verarbeiten und sich in die entstehenden Frühlingsgefühle hineinzulesen. Auch wenn Gianellis Gefühle einer Toten gelten, das sollte für Freunde und Freundinnen von Krimialliteratur kein Problem sein. Buddy Giovinazzo, der jetzt auch wieder Filme in den Staaten dreht und gerade nach dem Abschluss eines Horrofilms wieder nach Berlin zurückkehrt, sagt auf die Frage, was dieses Buch für ihn bedeute: „Die Geschichte in diesem Buch habe ich jahrelang in meinem Kopf mit mir herumgetragen. Es ist wie bei Frankenstein; ein Mann erschafft etwas, von dem er glaubt es sei die perfekte Frau, nur um festzustellen, dass er einen Alptraum geschaffen hat, aus dem zu fliehen ihm unmöglich ist. Ich war komplett allein als ich das geschrieben habe. Deshalb ist die Einsamkeit so schmerzhaft für den Protagonisten. Wir alle waren schon in Beziehungen, die uns nicht gut getan haben, aber die Angst vor der Einsamkeit hält uns zuweilen in diesen Beziehungen gefangen. Genau das ist mir damals auch passiert.“
„Piss in den Wind“
Buddy Giovinazzo
Pulp Master (www.pulpmaster.de)
ISBN 978-3-927334-40-1
EUR 13,80
Diese Rezension erschien am 15.3.2012 in der jungen Welt.
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