„Ey, du bist doch ein Kerl!“

von Ulf Schleth

Sarah Marrs: "Stadtnomadin"Das Presseheft zur „Stadtnomadin“ kann man getrost in der Pfeife rauchen. Krampfhaft wird da versucht, eine passende Schublade zu finden. Ein Vergleich mit David Sedaris muß herhalten wie so oft wenn Literatur angepriesen wird, die persönlich und damit offenbar immer auch schräg ist, „unter die Haut geht“ aber trotzdem massenkompatibel bleibt. Ganz nach dem Motto „Kunden, die David Sedaris gekauft haben, kaufen auch dieses Buch.“ Derlei sollte der Verlag doch lieber den Online-Shops überlassen. „Der Leser würde in einen „Rausch aus Eindrücken“ hineingezogen. Betulich wird die Veröffentlichung angepriesen als „kurzweilige Unterhaltung, die ein unkonventionelles Lebensgefühl transportiert“ und als „authentisches Porträt zweier Städte im Wandel“. Die häufige Verwendung solcher Gemeinplätze ist zwar vollkommen unnötig und unangebracht, aber vielleicht auch nicht ungewöhnlich für einen Verlag, dessen fast zeitgleich erschienenes Zugpferd die Autobiografie von Eveline Hall ist, einer Tänzerin und Schauspielerin, die jetzt im Alter von 68 Jahren als Model arbeitet. Eine sicher zufällige, aber interessante Koinzidenz, denn im Leben von Sarah Marrs spielt ebenfalls ein in die Jahre gekommenes Model eine tragende Rolle: ihre Mutter.

Sarah Marrs hat immer ein enges, unverblümtes und humorvolles Verhältnis zu ihrer Mutter behalten, die in London und Paris als Model arbeitete und sich später als Covergirl für „Harper’s Bazaar“ und „Vogue“ einen Namen mit ihrem „Audrey-Hepburn-Look“ machte. Als Mädchen mußte sie gleichzeitig Sohn und Tochter sein und obwohl sie selbst sagt, daß sie nie Model sein könnte, merkt man, daß die Attitüde ihrer Mutter Spuren hinterlassen hat. Sie zog 1989 mit 24 Jahren kurz vor der Maueröffnung von Chicago nach Berlin und fand schnell Kontakt zur Ostberliner Kunstszene. Ihre privilegierten Verhältnisse und ihr Kunstdiplom ließ sie in der Heimat zurück, es kam aber nie zur kompleten Abnabelung. Um ihre Mutter bei der Erziehung ihrer beiden Nichten zu entlasten, pendelte sie bald über den Ozean. Ihre Arbeit als bildende Künstlerin und Musikerin verlor sie trotz Durstrecken und Nebenjobs nie aus den Augen. Die bekanntesten Bands mit denen sie als Sängerin zusammengearbeitet hat, waren „Kyborg“, „Ornament und Verbrechen“ und „Tarwater“.

In „Stadtnomadin“ beschreibt Marrs auf liebevolle Art und Weise die Erlebnisse mit ihrer Familie, ihrer manchmal etwas schrulligen Mutter und deren Männern. Sie wechselt häufig zwischen Berlin und Chicago hin und her, so daß der Leser manchmal nicht mehr genau weiß, wo er sich gerade befindet, was dem Leben zwischen den Metropolen eine entspannende Normalität verleiht. Sie beschreibt eindrücklich die dröge Konferenz „Kunst. Was soll das?“ 1992 im ebenso drögen Bitterfeld. Mit ihrer Band „Novemberklub“, deren Mitglieder Bernd Jestram, Ronald Lippok, Mario Mentrup, Bert Papenfuß und Brad Hwang die gesamtdeutsche Kunstszene auch heute noch beeinflussen, lockerte sie die Podiumsdiskussionen der Kunstprominenz auf. Sie schreibt über ihre Gewissensbisse beim Taubentöten, gräbt Erinnerungen an längst geschlossene Lieblingslocations aus, erzählt, warum sie mal für eine Mafiosibraut gehalten wurde und gibt unverblümt ihre Affinität zum Fernsehen, Soap Operas und Reality-Shows zu. Sie widmet dem sozialen Mikrokosmos des legendären „Superspar“ am Hackeschen Markt ein ganzes Kapitel. Dieser Supermarkt, der heute zwar Edeka heißt, aber immer noch die Grundversorgung der täglich durch ihn hindurchströmenden Massen reicher Touristen und armer Künstler sicherstellt, war nicht nur für Sarah Marrs ein Ruhepol im Bohèmestreß. Eine besondere Stellung im Buch nimmt ihr ehemaliger Freund und Chef Gruen ein, der sich als Jude im Berlin der Nazizeit verstecken mußte. Die lebendige Schilderung ihrer Zuneigung zu ihm, seine Rückblicke und ihre gemeinsamen Erlebnisse hinterlassen einen tiefen Eindruck.

Dies ist mehr als ein Hauptstadtroman. Auf herzerwärmende und humorvolle Art und Weise betreibt Marrs Kulturarchäologie, beschreibt die Konsolidierung der Künstlerin als junger Frau, zeigt wie wichtig Hartnäckigkeit dabei ist und veranschaulicht Unterschiede zwischen den drei Kulturen, zwischen denen sie sich bewegt hat; der beiden deutschen und der amerikanischen. Neben dieser erzählerischen Leistung reibt sie dem Leser aber auch immer wieder ihre Abneigung gegenüber Voreingenommenheit und Schubladendenken unter die Augen. Dadurch, daß sie wegen ihrer Statur, ihrer dunklen Haare, ihrer lauten und tiefen Stimme von ihrer Umwelt immer wieder in eine eher maskuline Rolle gedrängt wird, läßt sie uns mit ihren Augen auf die Sexismen des Alltags blicken. Einen besonders kritischen Blick wirft sie auf den deutschen Nationalchauvinismus: „Bist du bescheuert? Die Amis haben keine Kultur? Was, verdammt nochmal, weißt du überhaupt? Hast du zu viel ferngesehen? Hau mal ab aus deinem fucking Berlin, aus deinem fucking Osten, aus deinem fucking Kiez! Hau ab für verdammte zwei Jahre aus deinem fucking Leben, scheißegal wohin, und dann sag mir dasselbe noch mal ins Gesicht!“

Sarah Marrs: „Stadtnomadin. Wilde Tage in Chicago, lange Nächte in Berlin“, Eden Books, 201 S., ISBN 978-3944296210, EUR 14,95

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Dieser Artikel erschien am 16.10.2013 in redigierter Fassung unter dem Titel „Kein Bohemestress am Superspar“ in der taz Berlin.

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