Nervöse Energie

von Ulf Schleth

Dave Zeltserman: "Paria"Kyle Nevine ist ein Arschloch. Seine achtjährige Haftstrafe hat er bis zum Ende abgesessen. Angebote auf Strafverkürzung lehnte er ab, damit er sich nach verbüßter Haftstrafe ohne Auflagen gleich wieder an die Arbeit machen kann: Er stiehlt, betrügt, überfällt, entführt und mordet. Vor dem Zuchthaus wartet sein Bruder Danny auf ihn, um ihn in der Freiheit willkommen zu heißen. Beide sind in South „Southie“ Boston aufgewachsen und dort fest in die mehr oder weniger organisierte Unterwelt integriert. Kyle kann sich nicht erklären, wie sein Bruder zu einem Weichling degenerieren konnte, der einer geregelten Arbeit nachgeht und sich von seiner Freundin das Rauchen in der Wohnung verbieten läßt. Also beginnt er sogleich damit, Dannys Leben durch Druck und Manipulation wieder auf Spur zu bringen.

„Paria“ von Dave Zeltserman ist in bester Noir-Tradition geschrieben. Er paart deren düstere, zynisch-ironische Weltsicht mit den trivial angelegten Erzählmustern, aber auch den urbanen und modernen Elementen der Pulp-Literatur, die sich seit ihrer Entstehung als Groschenroman in den USA der 30er-50er Jahre zu einer eigenen Kunstform entwickelt hat. Durch die Ich-Perspektive identifiziert sich der Leser mit dem Protagonisten, einem gesellschaftlichen Albtraum, manipulativen Soziopathen und narzisstischen Sexisten. Ab und an erwecken seine Regungen gar den Anschein von Menschlichkeit und sozialer Interaktion. So erhält Dave Zeltserman die Verbundenheit zu Kyle aufrecht, während er dessen menschliche Züge demontiert. Werte und Gewissen gibt es für Kyle nicht wirklich. Kyle ist ein Kind unser individualisierten Gesellschaft, strebt nach freier Entfaltung und wirtschaftlicher Unabhängigkeit, ohne jeden Skrupel, mit gleichgültiger, unerbittlicher Gewalttätigkeit. Auch sein Frauenbild verursacht Würgereiz. Frauen sind in Kyles Welt so etwas wie Biomasse, die tunlichst in eine Form gepreßt sein sollte, die ihm gefällt. Sollte es mit dem Ficken trotzdem mal nicht so klappen, hilft eine blaue Pille. Nur so ist er in der Lage, seine „nervöse Energie“ abzubauen: durch Sex oder Gewalt.

Auch sonst fräst sich Kyle wie eine Maschine seinen Weg durch das Geschehen. Bis dahin ein gutes Stück angenehm unbequemer Literatur. Aber nicht außergewöhnlich. Wenn Zeltserman nicht eingefallen wäre, Kyle am Scheitelpunkt der Ereignisse Bekanntschaft mit der Verlagsbranche machen zu lassen. Und die bekommt ihr Fett weg. Nachdem er sich mit seinen Taten einen Namen gemacht hat, wird Kyle ein hochdortierter Buchvertrag angeboten, um seine Version der Geschichte zu schreiben. Den Grundplot schreibt ein netter Typ mit M.A. in kreativem Schreiben, dessen Name aber nunmal keinen Klang hat. Kyle, auch nicht ganz unbegabt, schreibt das Buch und es wird ein Riesenerfolg.

Doch während des folgenden Medienmarathons werden Zweifel laut. In Kyles Buch werden einige Sätze aus Noir-Klassikern gefunden, woraufhin er des Plagiats bezichtigt wird. Darin besteht die großartige Ironie dieses Buches. Kyle Nevine kommt mit den übelsten Verbrechen durch, stolpert am Ende aber über einen Plagiarismus-Skandal, etwas das es in dieser Form in der postmodernen Informationsgesellschaft längst nicht mehr geben sollte. Keine Frage, daß er dafür wenig Verständnis hat und sich dafür mit einem fulminanten Showdown bedankt.

Dave Zeltserman gelingt es mit „Paria“, uns die bedrückenden Ansichten eines sehr unangenehmen Menschen zu implantieren und dabei mit Gesellschaftskritik nicht zu sparen. Er zwingt uns zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Geschehen, bis wir ausreichend Antikörper gebildet haben und liefert damit ein schönes Beispiel dafür, daß gute Pulp/Noir-Literatur auch heute bestens funktioniert und in ihrer Vielschichtigkeit ebenso ins Feuilleton gehört wie in die Toilettenbibliothek. Daß wir diesen Titel in deutscher Übersetzung lesen können, haben wir dem kleinen Berliner Nischenverlag „Pulp Master“ zu verdanken, der auf diesem Gebiet ein Juwel nach dem anderen zutage fördert. Bei Zeltserman hat jedoch auch der Suhrkamp-Verlag bereits zugeschlagen, der 2012 auf der Suche nach neuen Betätigungsfeldern dessen Titel „28 Minuten“ veröffentlicht hat.

Dave Zeltserman: Paria. 368 S. EUR 13,80. Pulp Master

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Dieser Artikel erschien in einer bearbeiteten und redigierten Fassung am 28.09.2013 in der taz.

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