„Tränengas olé!“

von Ulf Schleth

Demonstrant wirft während der Gezi-Park-Proteste 2015 von der Polizei verschossenes Tränengas zurück. Foto: Mstyslav Chernov, http://mstyslav-chernov.com/, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Demonstrant wirft während der Gezi-Park-Proteste 2015 von der Polizei verschossenes Tränengas zurück. Foto: Mstyslav Chernov, http://mstyslav-chernov.com/, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Der islamische Staat steht vor seiner Haustür und Recep Tayyip Erdoğan, dem Präsidenten der Türkei, fällt nichts besseres ein, als unter Berufung auf eine sehr eigenwillige Interpretation von Kolumbus‘ Tagebüchern zu verkünden, daß muslimische Seefahrer Amerika schon vorher entdeckt hätten. Nicht, daß das jemanden wundern würde; die Weltöffentlichkeit ist solche Späße von Erdoğan gewohnt. Ist er ein Dadaist mit ausgeprägter Profilneurose, oder er will ablenken? Und wen könnte er ablenken wollen? Die Weltöffentlichkeit? Seine eigenen Anhänger?

Daß es in der Türkei viele Menschen gibt, die ihn ganz und gar nicht spaßig finden, wissen wir spätestens seit Mai 2013. Es begann mit Protesten gegen ein Bauprojekt auf dem Gelände des an den Istanbuler Taksim-Platz angrenzenden Gezi-Park. Der zivile Widerstand wuchs sich zu einer Bewegung gegen die türkische Regierung, ihre Polizeigewalt und Korruption aus. Realitätsfern wie üblich mutmaßte Erdoğan hinter alledem eine große Verschwörung von Zionisten, der USA, dem Internet und einfach allem. Kein Grund zu verzweifeln. Deniz Yücel, 1973 als Sohn türkischer Eltern in Deutschland geborener taz – Redakteur, hat aufgeschrieben wie es wirklich war.

„Taksim ist überall“ ist im März diesen Jahres erschienen und hat durch die neueren Entwicklungen noch an Relevanz gewonnen. Yücel führt in die türkische Geschichte ein, wobei er auch den Völkermord an den Armeniern nicht ausläßt und widmet wichtigen politischen Schauplätzen jeweils ein Kapitel. Er spricht mit Kurden in Tarlabaşı, mit Schauspielern in Cihangir, mit Fußballfans in Beşiktaş, mit anarchistischen Muslimen in Fatih, mit einer Familie in Antakya, mit der türkischen Hackergruppe RedHack, mit Homosexuellen und Geschäftsleuten. Er hat mit etwa hundert Menschen gesprochen. Quer durch die sozialen Schichten der modernen Türkei. Er verleiht damit dem Protest ein Gesicht. Erst die Gezi-Bewegung hat vielen Westeuropäern klar gemacht, was die Türkei ist und worum es dort geht.

Die Türkei hat eine Schlüsselposition als Verbindung zwischen der asiatischen, westlichen und arabischen Welt inne. Ein großer Teil ihrer Bevölkerung wehrt sich gegen eine Regierung, die sich selbst bereichert, die Schritt für Schritt die Errungenschaften der Säkularisierung über Bord wirft und in die Privatsphäre ihrer Bürger hineinregiert. Deshalb war Gezi so wichtig: Die türkische Bevölkerung trat auf breiter Front ins Licht der internationalen Öffentlichkeit um zu zeigen, daß sie ihre Freiheit gern behalten würde, anders als ihr geistig umnachteter Präsident mit seinen neo-osmanischen Anwandlungen es gern hätte. Der machte schon 1998, in seiner Zeit als Istanbuler Oberbürgermeister klar, wo er hin will: „Die Demokratie ist nur ein Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

„Taksim ist überall“ ist ein sozialpolitscher Reiseführer durch die türkische Psycho- und Topologie. Die Lektüre hilft dem Leser, zu verstehen oder wenigstens zu erahnen. Wie es zum absoluten Wahlsieg von Erdoğan und seiner AKP kommen konnte, die jetzt über 48% Andersdenkender herrschen, warum Istanbul so wichtig für die Türkei ist und daß Personenkult Tradition hat in der türkischen Politik. Aber auch wie facettenreich die politische Kultur in der Türkei ist. Sauber recherchiert werden Zusammenhänge zwischen Politik und Wirtschaft erklärt, wie Korruption beide miteinander verbindet und wie in der Türkei (Selbst-)Zensur funktioniert. Und wie die neue Qualität zivilen Ungehorsams zustande kam, die die Gezi-Proteste mit viel Humor etablierten. Die Demonstranten riefen noch mit rotgeheulten Augen „Tränengas olé!“.

Vorwerfen könnte man Yücel allenfalls, daß er den Leser mit zu vielen Namen und Einzelschicksalen zu überfordern droht. Daß er noch mehr hätte erklären und auf das offensichtliche hinweisen können. Er verzichtet zugunsten der Authentizität. Eine Übersetzung ins Türkische wäre wünschenswert. Sie ist nach Aussage des Autoren nicht ausgeschlossen, könnte aber an dem Mißtrauen scheitern, das einige fragwürdige Publikationen zum Thema beim türkischen Publikum hervorgerufen haben.

Die Situation in der Türkei spitzt sich weiter zu: Am 24. November faßte Erdoğan auf einer Rede vor einem türkischen Frauenverband etwas in Worte, wovor sich viele türkische Frauen fürchten; daß die Gleichberechtigung wohl keine so gute Sache sei, denn Mann und Frau hätten nunmal unterschiedliche Körper und Eigenarten. Etwas, das Muammar al-Gaddafi in seinem „Grünen Buch“ ganz ähnlich formulierte. Währenddessen wirkt die Regierung in Ankara hilflos. Statt Gezi als eine Chance zum Wandel zu nehmen, regiert sie gegen den Willen fast der Hälfte ihrer Bürger und fliegt Luftangriffe auf Kurden, die gegen die IS Stellung bezogen haben. Die drohende Kulisse eines Bürgerkrieges wird immer realistischer.

Edition Nautilus, ISBN 978-3894017910, EUR 14,90

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Dieser Text erschien am 5.12.2014 in redigierter Version in der „jungen Welt„.

Im April 2017 erschien nach der Verhaftung Yüzels eine aktualisierte Solidaritätsauflage des Buches, deren Vorwort in der „taz.die tageszeitung“ vorveröffentlicht wurde.

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